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SHARY BOYLE. Manufaktur des Fragilen

Kategorie: Porträt 25. März 2009

Porzellan, in Europa lange Zeit asiatische Importware, erzielte am Markt Preise wie Gold. 1708 entdeckte der Alchemist Johann Friedrich Böttger die "europäische" Rezeptur für Hartporzellan. August der Starke, Kurfürst von Sachsen und Dienstherr Böttgers ließ daraufhin in Meissen Europas erste Manufaktur für Porzellan errichten. Der Alchemist und seine in der Manufaktur tätigen Kollegen wurden mit Reiseverbot bedacht, die Verbreitung der Rezeptur sollte verhindert werden. Bereits 1718 brachte ein aus Sachsen flüchtiger Arkanist die Formel jedoch nach Wien, dort entstand mit der Manufaktur Augarten die erste Meissner Konkurrenz.

Die Porzellanproduktion in Meissen spezialisierte sich früh auf Figurenplastiken. Die Meissener Figurinen waren Statusobjekte der Reichen dieser Zeit. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts änderten sich Produktionsform und Geschmack. Die Porzellanfigürchen waren bald als industriell gefertigter Massenkitsch verschrien. Goethe schreibt nach einem Besuch in der Meissener Produktion: "Es ist eigen und beynah unglaublich, daß man wenig darin findet, was man in seiner Haushaltung besitzen möchte.“ Zu sehen ist „von allem, was nicht mehr gefällt und nicht mehr gefallen kann, und das nicht etwa eins, sondern in ganzen Massen zu hunderten, ja zu tausenden.“

Shary Boyle, in Toronto lebende Künstlerin, beginnt Ende der 1990er Jahre mit skulpturaler Arbeit. Zunächst verwendet sie im Backofen härtende Modelliermasse für ihre Figuren. Angelehnt an Mythologien und verwoben mit aktuellen Themen sind diese phantastische Interpretationen der Welt. Das Phantastische nutze sie als eine Form zu entfliehen, dem Banalen und den deprimierenden Elementen unserer täglichen Existenz. So, sagt sie, habe das Ganze angefangen. Knapp zehn Jahre später hat sich die Künstlerin zum Material Porzellan weitergearbeitet, beherrscht die Technik der Produktion und ihre Geschichte. Im Gegensatz zur Modelliermasse ihrer frühen Arbeiten ist das Material Porzellan historisch besetzt. Ihre Figuren bringt sie deshalb nicht mehr nur aus dem Material hervor. Sie sind Teil einer Tradition, die in Europa in Meissen begann und deren symbolisches Referenzkraft die Künstlerin nutzt.

Zur Weiterentwicklung ihrer Technik hat Shary Boyle die Porzellanmanufaktur in Meissen besucht. Die ihre Figurinen zierenden Spitzen aus Porzellan sind ursprünglich eine Meissener Erfindung. Das Zierliche nutzt sie zur Darstellung von Widersprüchlichkeit und Hybridität. Inhaltlich geht es ihr in ihren Arbeiten darum, Platz zu schaffen für das, was weniger akzeptiert, aus der Ordnung geraten, unkontrollierbar ist. Die Spitzen wuchern und überwuchern die Figuren, deren Gliedmaßen oftmals verkehrt angebracht oder abgeschnitten sind. Biedermeierisch anmutende, in demütiger Haltung verharrende Figürchen, stehen enthauptet da oder mit abgetrennten Gliedmaßen, sie weisen Wunden und Schnitte auf und ihre Gesichter zeigen Lust, aber auch erlittenes Unrecht und Schmerz. Die Schönheit des Trägermediums und seine eher konservative Tradition werden zum Kontrastprogramm, wie ein Schleier legt sich die zierliche Spitzenhülle über alles und scheint verdecken zu wollen, was aus dem Inneren hervorbricht. (Text: Wolfgang Haas)

https://www.sharyboyle.com/


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