EGON SCHIELE. Zwischen Moderne und Tradition
Egon Schieles Ausdrucksform war die Zeichnung mit ihrer Unmittelbarkeit, etwa 3000 hat er im Laufe seiner kurzen, gerade 10-jährigen Karriere geschaffen. Auch sein malerisches Werk offenbart eine Handschrift, die einige der Wesenszüge der Zeichnung weiterführt: Umrisse, Linie, graphische Zeichen.
Mit ihrer neuartigen emotionalen und sinnlichen Direktheit stellten seine Portraits und Selbstportraits die Vitalität beide Genres wieder her. Die Verzerrung und Verfremdung der Figuren standen in Gegensatz zur Ästhetik des Jugendstils und der konventionellen Auffassung von Schönheit.
Schiele hat zwar Gustav Klimt‘s Interesse an der erotischen Abbildung der weiblichen Form aufgenommen, löste sich aber von den gemusterten schillernden Oberflächen seines Mentors und beschäftigte sich intensiver mit dem Innenleben seiner Modelle.
Typisch für den zunehmend expressiven Stil seiner Figurenzeichnungen war es, existentielle Angst durch Linie und Umriss auszudrücken und das Fleisch Deformierungen und Verfärbungen zu unterwerfen. Die psychologisch und erotisch aufgeladenen Bildnisse, in denen er selbst nackt oder in offenherzigen Posen auftritt, waren in der abendländischen Kunstgeschichte bis dahin beispiellos.
Davon kann sich der Besucher nun bis 18. Juni selbst überzeugen: Noch vor dem Gedenkjahr 2018 zeigt die Albertina bereits jetzt eine umfassende Ausstellung von Egon Schieles Werk - zwölf Jahre nach ihrer letzten Schiele-Schau von 2005.
Dabei wird ein neuer Blick auf Egon Schieles Werk gerichtet, der die existentielle, spirituelle und religiöse Dimension seines Werks hervorhebt. Anhand der Menschwahrnehmung Schieles als roter Faden der Ausstellung werden thematische Entwicklungslinien in seinem radikalen Oeuvre aufgezeigt und ein neuer Blickwinkel jenseits der Fixierung auf erotisch-pornographische Seite eingenommen.
Insbesondere auf Basis der Forschungen des Kunsthistorikers Johann Thomas Ambrózy (publiziert 2009) zeigt sich Schieles Interesse an Franz von Assisi und seine Identifikation mit dem Heiligen. Eine Serie bislang unverstandener, allegorischer Zeichnungen, wie "Erlösung" oder "Die Wahrheit wurde enthüllt" kann anhand der Forschungsarbeit Ambrozys in neuem Licht interpretiert werden. Sowohl Arbeiten mit mönchisch anmutenden Figuren als auch nackte Darstellungen Schieles erweisen sich als Bezüge zum Armutsideal des Hl. Franz, mit dem sich der Künstler zu jener Zeit nachgewiesenermaßen intensiv beschäftigte. Die geheimnisvolle Handgeste im Selbstporträt wiederum, in der Schiele seine Finger zu einem „V“ formt, verweisen auf eine byzantinische Christus-Darstellung, ebenso wir die Aureole, die seine Figur umgibt. Hier wie auch auf anderen Darstellungen inszeniert sich Schiele als messianischer Künstler und Heilsbringer. Die andere, die spirituelle Seite von Schieles Motivwahl wird hier der üblichen Auslegung als Obsessionen eines Erotomanen entgegengesetzt.
Ein weiterer Aspekt der in dieser Schau aufgegriffen wird, ist die Aneignung von verschiedenen Rollen und die gleichsam aktionistische Inszenierung seiner Arbeiten. In der kunsthistorischen Literatur wurde immer wieder der Einfluss des modernen Tanzes auf das Werk Schieles erwähnt, in diesem Licht erweist sich sein radikales Oeuvre als ein Vorläufer der Performance-Kunst. Eines der Merkmale großer Kunst ist, dass es -wie hier auch nach hundert Jahren- stets neue Seiten zu entdecken gibt.
Fokussiert auf die Jahre zwischen 1910 und Schieles Todesjahr 1918, gibt es 160 Gouachen und Zeichnungen zu sehen, 20 davon sind Leihgaben. Die Schau ist chronologisch angeordnet, großformatige Fotografien mit Ansichten aus jenen Jahren konfrontieren die Arbeiten des Künstlers mit der Realität seiner damaligen Umwelt. (Text: Cem Angeli)
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