HERMANN NITSCH. Die Passion ist das Negativ der Orgiastik
Künstlerportrait Hermann Nitsch. Für mich ist die Tatsache, dass die Welt ist, das Wichtigste. Die Kunst der Feier der Existenz.
„Ich liebe auch eure Feste nicht: zu viel Schauspieler fand ich dabei, und auch die Zuschauer gebärdeten sich oft gleich Schauspielern.“ (Nietzsche, Zarathustra)
Als soziale Wesen sind wir gezwungen uns zurück zu nehmen und unser Benehmen zu zivilisieren. Erziehen bedeutet zu einem beträchtlichen Teil, uns in den gesitteten, auf Produktivitätsoptimierung ausgelegten Sozialraum hineinzugewöhnen. In dieser individuellen und kollektiven Anpassungsleistung rücken Seiten, die zwar Teil von uns, aber nicht alltagstauglich sind, in den Hintergrund. Wir bauen ethische, moralische und ästhetische Tabus auf und kanalisieren die Bändigung unserer Wildheit durch idealisierte Leidenschaft. Die Psychoanalyse nennt diesen Prozess eine Projektion.
„die passion“, die Leidenschaft, schreibt Hermann Nitsch „ist das negativ der orgiastik“. Die christliche Religion – die sich in der Passion des Christus und ihrer idealisierten Wiederaufführung den Verdrängungs- und Projektionsmechanismus zum Zwecke ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zu nutze macht – und Nitsch mit seinem Orgien-Mysterien Theater reagieren auf den selben Umstand der Selbstentfremdung des Menschen von seiner Existenz. Daraus erklärt sich die Nähe der Inszenierungen Nitschs zum Kirchlichen und auch deren Bedrohlichkeit für die katholische Kirche und ihre Vertreter: Der durch das Orgien-Mysterientheater gegangenen Mensch, der sich mit allen Seiten seiner selbst auseinandersetzt, könnte für die Glauben machende Idealisierung der verdrängten Seite seiner selbst im Anderen, die Projektion, nicht mehr zugänglich sein. Nitschs Werk hat Nietzscheanische Seiten, „Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer „Selbstloses“ (Nietzsche, Zarathustra).
Die Selbstauseinandersetzung und der Tabubruch gelten als Merkmale des Wiener Aktionismus, dem Hermann Nitsch neben Günter Brus, Otto Mühl und Rudolf Schwarzkogler als wichtiger Vertreter zuzurechnen ist. Deren aktionistische, auf Handlung und Erleben bauende Kunst versuchte das konservativ klerikale und vom Totschweigen der eigenen Geschichte gekennzeichnete zivilisatorische Korsett der Nachkriegsgesellschaft zu sprengen. Damit Nitschs Theateraktion im Sinne einer aktionistischen Selbstauseinandersetzung des Menschen funktioniert, spielen in seiner Kunst nicht einfach Schauspieler ihre Rollen und bewundert das Publikum eine Aufführung. Wer da ist, nimmt Teil, wird mit all seinen Sinnen involviert und erlebt sich in einer realen Situation selbst. Nitschs Orgien-Mysterien Theater und auch seine Malaktionen sind als Ventile des Zivilisatorischen geplant, wie sie frühere Gesellschaften im Dionysos Mythos und dessen Zerreißfesten festschrieben. In der modernen Zeit sind solche Exterritorien des Sozialen als gesellschaftlich organisierte Außenräume bzw. Auszeiten selten geworden oder werden nur mehr individualisiert gelebt. Als vom teilnehmenden Publikum und dem Künstler gemeinsame durchlebte (Mal)Aktion berührt seine Kunst kollektive, im Dunkeln liegende Seiten des Seins, oder wie es bei C. G. Jung, den Nitsch sehr schätzt, heißt: Archetypisches unseres Daseins.
Der Weg zum Theater hat sich bei Nitsch über eine aktionistische, mit der Materialität arbeitende – spritzende, schüttende, verschmierende, vermischende, knetende – Malerei vollzogen. Vom Rot, einer sehr intensiven Farbe, in Kombination mit seinem Interesse für die Mystik und ihre Rituale, sei er zum Blut gekommen. Vom Blut und seinem aktionistischen Zugang zur Malerei war es nur mehr ein Schritt zu den Materialien seines Orgien-Mysterien Theaters. Seine Malerei entsteht in der Aktion, sie zeugt von Ekstatik so wie ein Raum, wenn die Feier vorbei ist, diese noch wiedergibt. In den Zeiten zwischen seinen Aktionen malt er in seinem Atelier – auch allein – oder, was ihn schon seit langem fasziniert, er komponiert. Neun Symphonien sind es inzwischen. Auch hier gibt Nitsch der Realinszenierung den Vorzug vor dem Spiel. „Meine Musik“ sagt Hermann Nitsch, „hat ihren Ursprung im Schrei, im intensiven Erregungszustand, in einem Zustand, der sich vorsprachlicher Äußerungen bedient.“ (Text: Wolfgang Haas)
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