IWAN KONSTANTINOWITSCH AIWASOWSKI. Ein russisches Märchen
Aiwasowski gilt als Meister der Meere. Zeitlebens widmete er sich vorrangig diesem Sujet, als Metapher des Lebens, der Sehnsucht ebenso wie des Kampfes zwischen Natur und Kultur.
Vor 111 Jahren ist er in seinem Atelier mit einem Pinsel in der Hand verstorben, so sagt es die Legende. Sein ungewöhnlich langes Leben hat tatsächlich nur dieses einzige Gemälde von geschätzten 6000 an der Zahl in unvollendetem Zustand zurückgelassen. Bereits zu Lebzeiten wurden seine Werke nicht nur in Russland, sondern auch in Europa und Amerika bestaunt, bewundert, verehrt - und gekauft. Er gilt als der erfolgreichste russische Romantiker des 19. Jahrhunderts. In der europäischen Kunstgeschichte scheint sein Name jedoch beinahe untergegangen. Die Rede ist von Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski, ein Maler, der wie kaum ein anderer die Fähigkeit besaß, Licht, Luft und Wasser in höchst realistischen Weise auf die Leinwand zu bringen.
Geboren wurde Aiwasowski, das Kind armenischer Flüchtlinge, im Jahr 1817 in Feodossija, einer kleinen Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sein künstlerisches Talent entfaltete er zunächst an den weißen Hauswänden der Nachbarschaft, wo er sich als kleiner Junge mit der Kohle eines Samowars behalf. Nach dem erfolgreichen Studium an der Kunstakademie in St. Petersburg unternahm er Studienreisen quer durch Europa. Sein Werk begeisterte die Menschen auf Anhieb. So gehörte auch der englische Romantiker William Turner zu seinen Bewunderern. Seine Stadtansichten Neapels nennt Turner das Werk eines Genies.
Wie Turner malte auch Aiwaswoski nicht mehr unter freiem Himmel, sondern fertigte nach Skizzen in seinem Atelier. Die Skizzen bestanden oft nur aus wenigen Strichen, das meiste entnahm er seinem Gedächtnis. Die Detailgenauigkeit seiner Stadtansichten wie Konstantinopel, Venedig oder Neapel ist angesichts dieser Tatsache umso erstaunlicher. Er malte nicht nur eine verblüffend realistische Architektur, sondern ließ in seinem Atelier Mondscheinnächte und Sonnenaufgänge erwachen, denen er teilweise gar nicht beigewohnt hatte.
Überliefert ist die Begegnung Aiwasowskis mit einem Zeitgenossen an der Küste von Biarritz. Es sei ein nebliger Tag gewesen und Aiwasowski habe sich bei ihm nach dem Verlauf der Sonne erkundigt. Am darauffolgenden Tag habe Aiwasowski die Brandung von Biarritz mit wenigen Linien in drei Lichtstimmungen gemalt. Dieser Pragmatismus musste manchem romantischen Zeitgenossen fast als Provokation erscheinen. Die Suggestion einer persönlichen Sinneswahrnehmung entpuppt sich bei ihm als quasi abrufbare Rezeptur.
Die Wirkung seiner Arbeiten schöpft jedoch nicht nur aus seiner Vorstellungskraft, sondern wesentlich aus dem Malerischen selbst: Seine rasche Arbeitsweise und sehr dünne Farbaufträge ermöglichten ihm weiche fließende Übergänge. So entsteht eine fast aquatische Transparenz und eine mit besonderem Licht gefüllte Atmosphäre. deren Sogwirkung und Leuchtkraft den Besuchern seiner Ausstellung im Pariser Salon so unheimlich erschien, dass sie die Rückwände der Gemälde auf mögliche Lichtquellen inspizierten.
Aiwasowski galt nicht nur in künstlerischer Hinsicht als eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit. Seinen Reichtum nutzte er wohltätig, sein Gestaltungswille fand auch in Modernisierungsmaßnahmen für seine Heimatstadt Feodossija seinen Niederschlag. Heute gilt er als fester Bestandteil der russischen Geschichte und fehlt in keinem Schulbuch.
Das Bank Austria Kunstforum zeigt nun erstmals außerhalb Russlands und der Ukraine eine Retrospektive des Künstlers. Zu sehen sind fünfzig repräsentative Gemälde, darunter noch nie ins Ausland gereiste Hauptwerke aus der Aiwasowski-Galerie in Feodossija und des Staatlichen Russischen Museums in St. Petersburg. (Text: Karen Oldenburg)
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